Roland Frei ist (fast) immer gut gelaunt. Er lebt seit 27 Jahren (meistens) friedlich mit seiner Multiplen Sklerose zusammen. Er hat sich vieles erkämpfen müssen, ist (inzwischen) aber ein regelrechter Experte für alle Themen rund um MS. Die Wörtchen «fast, meistens und inzwischen» sind den Aufs und Abs geschuldet, die ein Leben mit einer chronischen Krankheit zwangsläufig mit sich bringt.
«Als ich die Diagnose MS bekam, wusste ich nichts darüber. Damals hatte ich ein Jahr lang immer wieder Blasenentzündungen. Dass das an einer neurologischen Krankheit liegen könnte, darauf wäre ich nie gekommen. Mein Arzt gab mir damals Videos mit, in denen die Krankheit genauer erklärt wurde, und ich bekam eine Therapie. Besorgt war ich aber nicht, ich merkte ja nicht viel. Das war 1995, ich war 36 und hatte mit meiner Frau schon unsere drei Kinder. Mit 40 war ich dann zum ersten Mal zur Reha in Valens.»
«Stammpatient» in Valens
Bei diesem einen Mal sollte es nicht bleiben: Kürzlich war Roland – er bietet uns gleich das Du an – sage und schreibe zum 28. Mal im Rehazentrum Valens. Jedes Jahr mindestens einmal. Und immer habe er viel Positives mitnehmen können. Allein schon der Austausch mit anderen Betroffenen sei wichtig, besonders für die Psyche: «Körperlich musst du natürlich schauen, dass du so viel wie möglich aufbauen kannst in den drei Wochen.» In Valens sei er noch nie enttäuscht worden: «Ärzte, Therapie, Pflege, Patientencoaches, Reinigungskräfte – alle geben sich die grösste Mühe und reden mit den Patienten auf Augenhöhe. Noch nie gab es eine Unfreundlichkeit. Am besten wäre ja, ich könnte zweimal im Jahr für vier Wochen kommen, damit könnte man noch einiges mehr erreichen, aber das liegt nicht drin.»
Der Fussheber machte als erstes Schwierigkeiten
Die erste grössere Einschränkung, die Roland hatte, war eine Fussheberschwäche, die bei MS häufig auftritt. Ein gesunder Mensch denkt nicht darüber nach, was im Körper alles funktionieren muss, damit er laufen kann; wohl deshalb sagt Roland im Gespräch: «Probiert mal, eine Fussspitze anzuheben und loszulaufen, ohne die Wade anzuspannen.» Machen wir. Und bewegen uns nicht vom Fleck. Was Roland natürlich längst weiss und am eigenen Leib erfahren hat: Damit das Laufen reibungslos funktioniert, muss das Gehirn Impulse ans Rückenmark senden, von wo aus Bewegungssignale an die Nerven im Bein gehen. Das erste wichtige Signal geht an den Wadenbeinnerv, der für das Anheben der Fussspitze zuständig ist.
Bei dieser Aufgabe kam es bei Roland MS-bedingt zu Unterbrechungen. In der Reha konnte er jeweils Verbesserungen erzielen, und mit viel Fleiss konnte er diese auch zu Hause eine Zeitlang halten.
Dennoch musste er nach 10 Jahren den ersten Rollstuhl anschaffen. «Ich habe ihn zuerst nur im Auto mitgeführt, zur Sicherheit. Aber für weitere Strecken, wenn ich irgendwo nicht nah genug am Eingang parkieren konnte, musste ich ihn benutzen. Das hat mich genervt, aber das Gehen mit Stöcken war mir seit einem bösen Sturz auch nicht mehr geheuer. Damals bin ich mit den Stöcken umgeknickt und mit voller Wucht aufs rechte Knie gefallen. Dann schon lieber der Rollstuhl.»
Am MS-Stammtisch werden auch Tabus angesprochen
Alle Jahre wieder: zurück nach Valens. Roland kommt am liebsten im Herbst, wie einige andere auch – und so trifft er stets auf bekannte Gesichter. Ein beliebter Treffpunkt ist der runde Tisch im Restaurant Zanai, auch MS-Stammtisch genannt. «Nicht immer geht es um MS, aber oft. Man teilt eben das gleiche Schicksal, auch wenn es bei jedem anders verläuft. Und kommunizieren ist wichtig, und immer positiv bleiben, dann kannst du das Leben trotz allem geniessen.»
Kommunikativ ist Roland allemal. Mit seiner humorvollen Art schafft er es spielend, auch über Themen zu reden, über die sonst Stillschweigen herrscht: «Der ganze Körper und das ganze Leben können betroffen sein, wieso sollte man dann Blaseninfekte, Inkontinenz oder Sexualstörungen verschweigen? Ich merke immer wieder, dass MS-Patienten über gewisse Dinge nicht reden – oft nicht einmal mit ihrem Arzt.» So erzählt uns Roland, dass er am Stammtisch schon dem einen oder der anderen, mehr oder weniger diskret, intime Tipps gegeben habe. Man müsse über alles reden, wenn man über alle Möglichkeiten Bescheid wissen wolle.
Mit gesundheitlichen Auf und Abs leben gelernt
Doch auch er ist schon durch tiefe Täler gewandert. Am Anfang waren bei Roland nur einige wenige Nerven betroffen, später kamen ein paar Muskeln dazu, heute sind es eine Reihe von Muskeln, deren Funktion beeinträchtigt ist. Vor sieben Jahren hatte Roland dann auch noch einen Herzinfarkt. Aber nicht nur körperlich und psychisch geht es für ihn und seine Familie auf und ab, auch organisatorisch ist es fordernd: «Man braucht eine starke Psyche, wenn man auf der einen Seite mit der Krankheit kämpft und auf der anderen mit den Versicherungsanträgen für die Reha, den IV-Formularen und den RAV-Anträgen.»
Bürokratische und finanzielle Hürden gemeistert
Die bange Frage war immer, wie es finanziell weitergeht, wenn Roland das Arbeitspensum verringern oder die Arbeit ganz aufgeben muss. «Die Patientencoaches und der Sozialdienst im Rehazentrum Valens sind bei vielem behilflich, aber um alles können sie sich auch nicht kümmern. Ich war immer selber aktiv und habe alle Stellen angeschrieben, von denen ich erfahren habe.»
Nicht zuletzt wegen seiner Beharrlichkeit brachte es Roland auf bisher 28 Reha-Aufenthalte in Valens. Und auch sein Einkommen habe er immer irgendwie geregelt. Zehn Jahre arbeitete er trotz MS im Vollzeitpensum, dann musste er auf 50 Prozent reduzieren, erhielt eine IV-Halbrente, später eine IV-Dreiviertelsrente. Heute setzt sich sein Einkommen aus Geldern der IV, des RAV und des Sozialdienstes zusammen. «Nächstes Jahr werde ich pensioniert, dann ist sowieso wieder alles anders. Aber ich werde weiter aktiv bleiben, es gibt noch viel zu tun. In Valens feiere ich ja bald meinen Dreissiger.» Und schelmisch setzt er nach: «Bin mal gespannt, ob’s ein Gschänggli gibt.»
Zur Person
Roland Frei ist 63 Jahre alt, verheiratet, Vater von drei erwachsenen Kindern und Grossvater von drei Enkelkindern. Als gelernter Bauschreiner war er früher oft und lange auf Montage. Die Hotelbauten, an denen er beteiligt war, stehen etwa in Berlin, in Genf oder in der Karibik. Später war er 28 Jahre lang bei einem Zulieferer für die Autoindustrie tätig.
Weiterführende Infos
Mehr zur Multiplen Sklerose erfahren Sie bei der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft unter www.multiplesklerose.ch.
Dieser Beitrag ist in der aktuellen Voilà-Ausgabe erschienen, die hier zum Nachlesen (PDF) verfügbar ist.