Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Lange bemerkte Jeannine Roth die Risse nicht, die sich ganz langsam bildeten, und hielt auch dem grössten Druck Stand. Doch es prasselte privat und beruflich derart viel auf sie ein, dass sie eines Tages kapitulieren musste. Ein Klinikeintritt war Anfang des Jahres 2016 die einzige Option.
Wo soll man beginnen zu erzählen? Wann hat es angefangen, wirklich schwierig zu werden? Bis wohin war es noch zu bewältigen und wo war die Grenze zur Überforderung überschritten? Jeannine Roth fängt bei einem Ereignis von vor zwanzig Jahren an: «Eine Zäsur war sicherlich die schwere Erkrankung meiner Schwester. Das war 1999, Yvonne war erst 36 und hatte zwei kleine Kinder. Es war für die ganze Familie ein Schock.»
Leidensweg der Schwester als Taktgeber
Deshalb muss Jeannine Roth, um uns zum Kern ihrer eigenen Krankheit mitzunehmen, zuerst die Geschichte ihrer Schwester zu Ende erzählen. Denn es ging wieder aufwärts, Yvonne besiegte den ihre Krankheit und sah hoffnungsvoll in die Zukunft – bis nach zwölf Jahren eine Verschlechterung eintrat.
Jeannine Roth verbrachte im März 2015 einen letzten gemeinsamen Urlaub mit ihrer Schwester. Doch in diesen Tagen erschöpften sich zunehmend ihre emotionalen Reserven. Dennoch setzte sie sich danach an vielen Wochenenden für jeweils dreieinhalb Stunden in den Zug, um Yvonne zu besuchen. Im Oktober 2015 verstarb sie.
Ein Zuviel auf allen Ebenen
In dieser quälenden Zeit war Jeannine Roth Head of Accounting, also Buchhaltungschefin eines mittelständischen Unternehmens innerhalb eines Grosskonzerns: «Ich arbeitete 60 Stunden pro Woche, stand permanent unter Druck und fuhr viele Wochenenden zu meiner schwerkranken Schwester.» Und auch ganz persönliche, charakterliche Tendenzen hatten sich kumuliert: «Ich bin sehr genau. Gut war etwas nur, wenn es extrem gut war. Dies kam mir in meinem Beruf als Finanzfachfrau sehr entgegen, aber man muss seinen Anspruch an sich selbst auch mal herunterschrauben. Jeder hat schon von der 80/20-Regel gehört, aber für sich selbst wendet man trotzdem die 120-Prozent-Regel an.»
Doch es sei nie nur ein Faktor – oder zwei oder drei –, die es ausmachen. Jeannine Roth trieben auch private Sorgen um; in ihrer Partnerschaft kriselte es bereits seit Längerem. Dann, nach dem Tod ihrer Schwester, kam zur Trauer noch hinzu, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Drei Monate lang, trotz Psychotherapie und Medikamenten. Und «plötzlich ging es nicht mehr».
Jeannine Roths Psychiaterin hatte ihr Wochen zuvor bereits geraten, sich in einer Klinik behandeln zu lassen – zeigte sie doch typische Symptome einer mittelschweren Depression –, sie hatte jedoch Bedenken wegen der Arbeit und wollte es selbst schaffen. «Aber es kam der Tag, an dem ich wusste, dass ich keine Chance habe, wenn ich das Ruder nicht aus der Hand gebe. Schliesslich bin ich bei der Arbeit in Tränen aufgelöst zusammengebrochen.» Ihre Therapeutin schrieb sie sofort krank und am 19. Januar 2016 fuhr Jeannine Roth nach Gais: «Jetzt konnte ich endlich loslassen. Ich habe am Klinikempfang meinen Willen abgegeben und gewartet, was passiert.»
Auf der Suche nach dem Schlaf
Unmittelbar nach ihrem Eintritt in die Klinik Gais hatte Jeannine Roth ihr erstes Gespräch mit dem Chefarzt und fühlte sich sofort verstanden. Die Vertrauensbasis war gelegt. Nun war der nächste drängende Schritt, wieder Schlaf zu finden. Nach ein paar Tagen trat diesbezüglich eine Besserung ein, aber es dauerte vier Wochen, bis die richtige Medikation und Dosierung gefunden war: «Es war eine schwierige Suche. Ich bekam am Abend entweder Antidepressiva oder Schlafmittel und wurde am Morgen jeweils zu meinem Zustand befragt.»
Daneben führten die Pflegenden, ohne dass die Patientin es sofort bemerkte, ein Abendritual ein: «Das war clever. Sie rieten mir, doch mal ein Fussbad zu nehmen – gut schlaffördernd sei zum Beispiel Orangenblütenöl. Das war dann mein Rhythmus, ich holte jeden Abend meine Medikamente und mein Öl und beendete den Tag mit meinem Aromafussbad. Nach vier Wochen schlief ich zum ersten Mal seit Langem eine ganze Nacht durch.»
Dem Therapieplan zu folgen ist auch schon Therapie
Von Anfang an war Jeannine Roths Klinikalltag durchgetaktet. Jeden Tag standen vier bis fünf Therapien auf ihrem Plan. «Für mich war wichtig, dass ich ungefähr eine Stunde nach der Psychotherapie jeweils eine Bewegungseinheit hatte. Darauf wurde in der Klinik individuell eingegangen, da jeder Mensch etwas anderes braucht nach einem aufwühlenden Gespräch.» So standen auf dem Therapieplan unter anderem Krafttraining, Wandern, (Wasser-)Gymnastik, Atemgymnastik, Massage, Progressive Muskelentspannung oder Klangmeditation. Die Maltherapie verweigerte sie; aber das ist eine andere Geschichte, auf die wir später noch kurz zurückkommen.
Den so durchorganisierten Klinikalltag empfand Jeannine Roth – und das meint sie im positivsten Sinn – in etwa so: «Dem Trainingsplan blind hinterherlaufen.» Das mag für Aussenstehende nicht sonderlich erbauend klingen, aber, so Jeannine Roth: «Du musst nicht selbst denken, alles steht haarklein auf dem Therapieplan, sogar die Kleidung, in der du jeweils zu erscheinen hast. In der Verfassung, in der ich war, war das genau das Richtige. Nichts entscheiden müssen, einfach nur dem Therapieplan folgen. Allein das hat schon eine therapeutische Wirkung.»
Richtungswechsel und radikaler Neuanfang
Nach fünf Wochen in der Klinik Gais erfuhr Jeannine Roth von ihrem Arzt, dass sie, sobald sie wieder arbeitsfähig wäre, gekündigt werden sollte. Ihr Chef wollte es ihr nicht unter vier Augen sagen und nahm den Umweg über ihren Arzt. Doch Jeannine Roth hatte inzwischen einiges über sich und das Leben dazugelernt, und so wusste sie, dass sich ohnehin vieles würde ändern müssen. Auch von ihrem Partner hatte sie sich inzwischen getrennt.
«Sicher, das war alles nicht so leicht: Job weg, Freund weg, Schwester tot», sagt Jeannine Roth, aber Schritt für Schritt habe sie sich ein neues Leben aufgebaut. Heute, fünf Jahre später, hat sie einen tollen Job im 70-Prozent-Pensum ohne Führungsaufgaben, hat ihr Haus in Winterthur verkauft und ist nach Gais gezogen. Ihren Wunsch, sich in der Pension einen Hund aus dem Tierheim zu holen, hat sie vorgezogen – mit Vincent geniesst sie nun regelmässig die Natur vor ihrer Haustür. Und auch die Liebe ist zurückgekehrt in Jeannine Roths Leben.
«Ja, es geht mir wieder gut. Nach dem Aufenthalt in der Klinik war ich wieder ‹lebensfähig›. Ich wusste aber auch, dass ich nicht ‹gesund› bin, und dass ich weiter an mir arbeiten muss. Heute spüre ich sehr genau, wo meine Grenzen sind und teile mir meine Kräfte ein. Ich gehe weiterhin zur Psychotherapie – zwar in grösseren Abständen, aber doch regelmässig. Und seit einiger Zeit auch zur Maltherapie. Kleine Rückschläge gibt es trotzdem. Ein Anhaltspunkt ist oftmals der Schlaf: Wenn ich nicht gut schlafe, dann weiss ich, dass ich wieder mehr auf mich achtgeben muss.»
Die Therapie muss weitergehen, über Jahre
Die Maltherapie war ja etwas, das Jeannine Roth zunächst gar nicht behagte. Der Grund war, dass ihre Schwester sehr gut malen konnte und auch sonst sehr kreativ war: «Es war emotional zu stark mit Yvonne verknüpft.» Doch weil es ihr Arzt wiederholt empfohlen hatte, wollte sie es nach dem Klinikaufenthalt doch versuchen und fand eine Therapeutin, bei der sie sich noch immer wohlfühlt.
Und was empfiehlt sie anderen Betroffenen? «Wichtig ist, sich darüber klar zu werden, dass man erst in der Klinik die nötige Ruhe hat, um an sich zu arbeiten. Zwar ist es eine wirklich harte Arbeit, aber auch eine sehr lohnende.»
Jeannine Roth hat sich eine einfache Einsicht zu Herzen genommen: «Man muss nicht immer perfekt sein und man muss nicht immer allen ‹gefallen›. Man muss sein eigenes Leben leben und dies sollte man nach einem solchen ‹Vorfall› wirklich angehen.» Der Austritt aus der Klinik sei jedoch nicht das Ende dieser Arbeit, sondern erst der Anfang – und dies betont Jeannine Roth besonders, denn: «Die Gesundheit ist nach dem Klinikaufenthalt ein ‹zartes Pflänzli›, auf das man gut achtgeben muss.»
Zur Person
Jeannine Roth ist 52 Jahre alt und wohnt in Gais. Sie ist Finanzexpertin und arbeitet in der Buchhaltung / Personaladministration in einem KMU. Seit sie ihr Arbeitspensum auf 70 Prozent reduziert hat, verbringt sie viel Zeit in der Natur und erwandert mit ihrem Hund Vincent die Bergwelt in Gais und Umgebung. Sie geht offen mit dem Thema Depression um und hat auch in der Sendung «Gesundheit heute» darüber gesprochen. Nachzusehen ist der Beitrag unter www.gesundheit-heute.ch/sendungen. (Sendung vom 17.10.2020)